Jun.-Prof. Dr. Jürgen Rösch hat in seinem Leben von Start-up über Konzernwelt und Hochschule vieles gesehen. Über alle Stationen in seinem Lebenslauf steht aber eine Überschrift: Plattformökonomie. An der Bauhaus-Universität in Weimar vermittelt er inzwischen als Juniorprofessor für Digitale Ökonomien Studierenden, sowie im Rahmen des Bitkom-Zertifikatslehrgang Plattform Design & Management Professionals, einen Zugang zur Plattformökonomie, zu Plattformmärkten und zu Netzwerkeffekten. Zudem forscht er, wie Vorteile von digitalen Technologien und die Nutzung von Netzwerkeffekten unsere Welt positiv verändern können.
Netzwerkeffekte, Plattformmärkte und Plattformökonomien – Was bedeuten diese Begriffe?
d.velop blog: Netzwerkeffekte, Plattformmärkte und Plattformökonomien – Begriffe, mit denen möglicherweise nicht alle Leser:innen des d.velop blogs auf Anhieb etwas anfangen können. Kannst du das Themenfeld einmal in Kontext zu z.B. mittelständischen Unternehmen setzen?
Netzwerkeffekte sind tatsächlich ein sehr theoretischer Ausdruck. Aber das Konzept hinter Netzwerkeffekte ist eigentlich ganz einfach und zu einem gewissen Grad auch überraschend. In der Ökonomie geht man davon aus, dass jeder Mensch mehr oder weniger sein eigenes Ding macht. Er oder sie maximiert seinen oder ihren Nutzen und schert sich nicht viel darum, was mit anderen ist. Gibt es aber Netzwerkeffekte bzw. Netzwerkexternalitäten dann ist das auf einmal nicht mehr so. Wenn ich meinen Nutzen maximieren möchte, dann hängt das jetzt davon ab, ob und wie viele Leute das Gleiche machen wollen wie ich. Kaufe ich mir eine Hose oder ein Auto, ist es erstmal relativ egal, wie viel andere Leute die gleiche Hose oder das gleiche Auto haben. Der Nutzen, den ich davon habe, ist ja, dass ich nicht in Unterhosen herumlaufen muss und ich trocken und flexibel von A nach B komme. Gibt es Netzwerkeffekte ist es anders: Erst wenn genügend Leute auch auf Facebook sind, ist es für mich interessant einen Account bei Facebook zu haben. Airbnb zu nutzen, ohne dass ein Gastgeber sich dazu entscheidet, eine Wohnung anzubieten, ist auch eher langweilig.
Definition Netzwerkeffekte
Als Netzwerkeffekt wird der Effekt bezeichnet, bei dem mit steigender Nutzerzahl auch der Nutzen eines Gutes zunimmt (positive Netzwerkeffekte).
Es geht also darum, dass mein Verhalten, andere beeinflusst und mein Nutzen davon abhängt, wie sich andere entscheiden und was andere machen. Klingt einfach. Das hat es aber in sich: Gibt es Netzwerkeffekte, funktionieren Märkte vielleicht nicht einwandfrei. Gerade bei einer positiven Externalität bzw. bei positiven Netzwerkeffekten, wie es sie bei Plattformen normalerweise gibt, würde der Markt „zu wenig“ bereitstellen.
So theoretisch Netzwerkeffekte klingen, so praktisch sind sie
Das heißt, wir alle hätten etwas davon, wenn wir die Wirkung unseres Verhaltens auf andere berücksichtigen würden. Plattformen können genau hier ansetzen und diese „Wirkung auf andere“ sichtbar machen und uns helfen, dass wir und andere das nutzen können. So theoretisch Netzwerkeffekte klingen, so praktisch sind sie: Es könnte uns allen besser gehen, wenn wir berücksichtigen würden, dass andere davon profitieren, wenn wir uns auf eine bestimmte Art und Weise verhalten.
d.velop blog: Welches ist das übergeordnete Ziel deines Forschungsfelds und deiner Beratungsleistung?
Netzwerkeffekte sind kein neues Phänomen. Auch in der „analogen“ Welt gibt es Netzwerkprodukte und Unternehmen: die Bahn, Telekommunikationsmärkte, Strommärkte – sie alle werden von Netzwerkeffekten und einer Netzinfrastruktur geprägt. In der digitalen Welt schaffen es aber Unternehmen „plötzlich“ viel besser, solche positiven Netzwerkeffekte zu nutzen. Das ist gut, wir alle profitieren davon. Aber der Erfolg dieser Unternehmen macht sie natürlich auch mächtig. Der Kern ihrer Tätigkeit ist es ja eben, unser Verhalten so zu beeinflussen, dass andere davon profitieren. Aber könnten sie das auch für andere Zwecke nutzen? Gerade wenn wir an die großen, weltweit agierenden Plattform-Unternehmen denken, muss dies beachtet werden.
Netzwerkeffekte sind ein mächtiges Instrument
Netzwerkeffekte sind ein mächtiges Instrument. Es wurde schon viel geforscht dazu und es passiert gerade sehr viel. Aber ich glaube, es geht immer noch darum, die digitale Welt, die digitale Ökonomie aktiv mitzugestalten. Machen wir es nicht, machen es andere für uns.
d.velop blog: Netzwerkeffekte und Plattformmärkte sind offenkundig das verbindende Element zwischen all deinen beruflichen und akademischen Stationen. Was waren für dich die prägenden Erfahrungen, weshalb du initial begonnen hast, dich mit dem Thema Plattformökonomie zu beschäftigen und weshalb du es bis heute tust?
Ich habe von 1999 bis 2001 bei einem Dot.Com Unternehmen gearbeitet. Damals nach meiner kaufmännischen Ausbildung war das natürlich super spannend. Fast alles schien möglich. Aber der Spaß war schnell vorbei. Ich habe miterlebt, wie die „old economy“ vermeintlich gewonnen hat. Die Leute um mich herum waren froh, dass die Sache mit „diesem Internet“ vorbei war und dass das Kataloggeschäft ungefährdet weitergehen konnte. Damals hat nicht nur das Unternehmen, sondern meiner Meinung nach auch Deutschland und Europa insgesamt eine wichtige Phase verschlafen. Genau in dieser Zeit sind die großen Plattformen in den USA entstanden, die über die Jahre Zeit hatten, herauszufinden, wie das Geschäft in „diesem Internet“ funktioniert. Ich glaube, dieser epische Kampf zwischen old und new economy fasziniert mich seither.
Zweites: Als ich mich über den zweiten Bildungsweg an die Uni hochgearbeitet habe, bin ich 2008 während meines VWL-Studiums zum ersten Mal dem theoretischen Modell zweiseitiger Märkte begegnet. Darin geht es primär um die Wirkung von Netzwerkeffekten zwischen mehreren Parteien, die über Plattformen interagieren können. Damals habe ich Netzwerkeffekte noch nicht ganz verstanden, aber mich faszinierte, dass in diesen Modellen auf einmal Dinge ganz anders sind als in den anderen Marktmodellen: Preise können auf einmal gleich null oder negativ sein, Firmen müssen ein Chicken-Egg-Problem lösen und Konsumenten haben ein Koordinationsproblem. Das klang alles sehr spannend für mich.
Das sollten Unternehmen bei einem Wandel zum Plattform-Unternehmen beachten
d.velop blog: Wenn ein Unternehmen den Plan entwickelt, sich zum Plattform-Unternehmen zu wandeln; was wäre der wichtigste Tipp, den du ganz am Anfang geben würdest?
- Meinen Kurs besuchen 😉 Aber ernsthaft, ich würde dem Unternehmen empfehlen sich mit der Plattformökonomie zu beschäftigen. Es gibt mittlerweile so viele gute Bücher, Kurse und auch viele Leute, die unterstützen können. Ich würde mir jemanden holen, der sich damit auskennt.
- Das zweite wäre, dass ich die Erwartungen erstmal dämpfen würde. Plattformen können sehr dynamisch und sehr groß werden, aber bis dahin ist es ein weiter Weg. Ich würde mir ganz genau anschauen, wo ich Wert generieren kann und wo die Netzwerkeffekte wirklich liegen. Wenn ich die gefunden haben, dann kann ich mir überlegen, wie ich Transaktionskosten senke. Durch eine Plattform wird immer irgendwas schneller, einfacher, sicherer, besser, transparenter. Wo und an welcher Stelle kann ich dann mit technischen Lösungen Wert schaffen?
- Das dritte ist, dass ich mir genau überlegen sollte ist, ob ich das sein kann oder sein will, was eine Plattform macht. Für Plattformen stehen Interaktionen zwischen den Teilnehmer:innen im Vordergrund. Die Plattform bildet immer einen Prozess von zwei verschiedenen Nutzergruppen ab: Die Teilnehmerin einer Gruppe will etwas, was der Teilnehmer einer anderen Gruppe hat. Wie bringe ich die beiden zusammen? Welche Schritte müssen sie jeweils durchlaufen? Welche Lösungen kann ich anbieten, um das zu unterstützen? Will und kann ich dieser „Facilitator“ sein, oder will ich nicht doch in erster Linie lieber ein Produkt oder einen Service verkaufen? Das schließt natürlich nicht aus, dass die auch die Plattform selbst als Anbieter oder Nachfrager auf der Plattform auftreten kann. Aber es kommt zwangsläufig große Aufgaben dazu: Ein Netzwerk aus mehreren Parteien orchestrieren und koordinieren.
Vorteile (digitaler) Plattformen
d.velop blog: Und für Unternehmen, die keine eigene (digitale) Plattform aufbauen wollen, sondern vor der Einführung neuer Software stehen; welche Vorteile können diese Unternehmen aus der Netzwerkeffekten ziehen?
Es sind ja vor allem die Teilnehmer, die von Netzwerkeffekten profitieren. Die Plattformen ermöglichen das nur, aber die Wirkung der Netzwerkeffekte geht ja von den Nutzern aus. Und es sind auch die Nutzer, die davon profitieren. Man sagt ja manchmal so abfällig „ich will ja nicht der UBER-Driver sein“, aber das greift zu kurz: Wir sind ja alle auf Plattformen, weil wir auf die eine oder andere Weise davon profitieren. Je mehr wir davon profitieren, desto wahrscheinlicher kann die Plattform damit auch Geld machen.
d.velop blog: Plattformen leben davon, dass sie unterschiedliche Gruppen zusammenbringen. Über die Vorteile für Konsumenten (bzw. im B2B-Kontext Unternehmen) haben wir gerade gesprochen. Was würdest du auf Basis deiner praktischen Erfahrung und deiner Forschung anderen Softwareanbietern raten, wenn sie sich die Frage stellen, welche (Software-)Plattform für sie die richtige ist?
Als Teilnehmer einer Plattform interessiert mich immer, mit wem ich über die Plattform interagieren kann. Wen kann ich dadurch erreichen? Wer nutzt meine Software? Wenn man sich die App Stores von Google und Apple anschaut, dann sieht man ja schön, dass darauf viele Geschäftsmodelle laufen: Plattformen wie Instagram, Facebook, eBay oder auch TikTok, aber auch viele lineare Geschäftsmodelle wie Apps von Einzelhändlern oder manche Spiele. Die eine Marktseite, die App-Anbieter, können also Geld auf der Plattform verdienen. Das ist dann wieder keine Plattformfrage, sondern eine Frage des Business Cases:
- Auf welcher Plattform kann ich mehr Geld verdienen?
- Welche Möglichkeiten bietet mir die Plattform?
- Was kostet mich die Plattform?
Ich denke auch, dass es für viele Unternehmen viel attraktiver ist, die Vorteile einer Plattform zu nutzen, als selbst ein Plattform-Unternehmen aufzubauen und zu betreiben. Also die Frage ist dann immer, ob man lieber der Marktbetreiber ist oder lieber sein Gemüse am Markt verkauft, oder ob man lieber das Einkaufszentrum betreibt oder lieber ein Geschäft im Einkaufszentrum. Beides sind gute Geschäftsmodelle. Aber beide Geschäftsmodelle bringen grundlegend andere Herausforderungen mit sich.
Wie Independent Software Vendors (ISV) in der Plattformökonomie erfolgreich sind – 5 Tipps für mehr Erfolg
Etablierung einer digitalen Plattform in der Luftfahrt
d.velop blog: Noch einmal zu deiner Erfahrung aus der Praxis: Gibt es ein besonders spannendes Projekt, das du in der Praxis begleitet hast?
Ich habe die letzten Jahre an einem Projekt in der Luftfahrt gearbeitet. Das war sehr spannend, weil es eine sehr regulierte, aber auch eine sehr traditionelle und techniklastige Branche ist. Eine echte digitale Plattform zu etablieren, ist dort sehr schwer. Dementsprechend kann man auch eine ganze Menge falsch machen. Im Nachhinein sieht dann immer alles ganz logisch und ganz einfach aus. Das Spannende an einem solchen Projekt ist ja aber, dass man „nach vorne“ arbeiten muss.
Was mich so fasziniert hat, war, dass es so offensichtlich ist, dass es hier eine Plattform braucht. Aber dass selbst die Leute, die sagen, wir bauen eine Plattform, damit nicht unbedingt auch meinen, wirklich eine Plattform zu bauen. Ich glaube aber, dass das Unternehmen einen großen Hebel hat, Netzwerkeffekte zu heben. Vielleicht nicht in genau der gleichen Weisen, wie andere Plattformen, aber wenn das so wäre, dann gäbe es die Plattform schon lange.